Intuitionismus

Das Wort „Intuition“ wird umgangssprachlich wie auch in der Psychologie und verwandten Gebieten mit unterschiedlichsten Bedeutungen gebraucht, es bezeichnet normalerweise irgendetwas zwischen automatisierter Fähigkeit, unbewußtem Denken und metaphysischer Eingebung. Die Bezeichnung „intuitionistische Logik“ aber leitet sich nicht hiervon ab, sondern von einem Standpunkt in der Diskussion um die Grundlagen der Mathematik, dem sogenannten Intuitionismus, der um die vorletzte Jahrhundertwende als Gegenposition zu Cantors transfiniter Mengenlehre formuliert wurde. Der Kern dieser Position, nämlich die Ablehnung aktual-unendlicher Konzepte, läßt sich aber zurückverfolgen bis zum Atomismus in der Antike.

Im 19. Jahrhundert wurde dies besonders von französischen Mathematikern vertreten, deren Bekanntester wohl Henri Poincaré war, welcher zum Beispiel die These vertrat, dass die mathematische Induktion zu rechtfertigen sei als eine Bestätigung einer Eigenschaft unseres Verstandes. Es war aber erst der holländische Mathematiker L.E.J. Brouwer, der es unternahm, unter konsequenter Berücksichtigung dieser Kritik eine neue Begründung der Mathematik zu konstruieren, welche er „intuitionistisch“ nannte, Bezug nehmend auf die „Intuition of two-ity“ als die Erkenntnis oder Wahrnehmung der Zwei-heit als Abstraktion des zeitlichen Nacheinander, welche nach Brouwers Auffassung die psychische Grundlage der gesamten Mathematik bildet.

afbeelding van Brouwer, Luitzen Egbertus Jan

Der Niederländer Luitzen Egbertus Jan Brouwer (27.2.1881 bis 2.12.1966) hatte ab 1897 Mathematik und Naturwissenschaften studiert, 1907 promoviert zum Thema „Über die Grundlagen der Mathematik“ und war ab 1909 Privatdozent, ab 1912 außerordentlicher Professor und schließlich von 1913 bis 1951 ordentlicher Professor für Mengenlehre, Funktionentheorie und Axiomatik, stets an der Universität Amsterdam. Neben seiner Beschäftigung mit dem Grundlagenproblem hat er auch so erfolgreich auf dem Gebiet der Topologie gearbeitet, dass er heute als deren eigentlicher Begründer angesehen wird – von ihm stammt der zentrale „Brouwersche Fixpunktsatz„.

Ab 1911 besuchte Brouwer regelmäßig Göttingen, damals das Weltzentrum der Mathematik, wo Hilbert am Grundlagenproblem der Mathematik arbeitete. Anläßlich der nach dem Weltkrieg erstmals wieder möglichen Teilnahme deutscher Mathematiker am lnternationalen Kongress in Bologna kam es 1928 zu einem öffentlich geführten politischen Streit zwischen Brouwer und Hilbert, der zum persönlichen Bruch und zur Entfernung Brouwers aus der Redaktion der Mathematischen Annalen führte. Max Born schrieb damals diesbezüglich an Einstein: „Das Verhalten Brouwers in der Sache, der nationalistischer auftrat wie die Deutschen selber, hielt Hilbert wie wir alle für eine Narretei“. Neben der politischen lag dem wohl auch menschliche Unverträglichkeit zu Grunde, denn Brouwers Charakter wird als exzentrisch bis bizarr beschrieben: „There is a general agreement with Schopenhauer’s pessimistic views, misanthropic attitude, appreciation of mysticism and eastern philosophies, and his low regard for women“.

Nach dem Scheitern des ursprünglichen Hilbert’schen Programms wies Kurt Gödel allerdings später nach, dass inhaltlich die Positionen von Brouwer und Hilbert durchaus nicht unverträglich waren. Insbesondere zeigte Gödel, wie die intuitionistisch eingeschränkte Logik auch als eine Erweiterung der klassischen Logik aufgefasst werden kann. John von Neumann urteilte später folgendermaßen über den Intuitionismus: „Only very few mathematicians were willing to accept the new, exigent standards for their own daily use. Very many, however, admitted that Weyl and Brouwer were prima facie right, but they themselves continued to trespass, that is, to do their own mathematics in the old, ‚easy‘ fashion – probably in the hope that somebody else, at some other time, might find the answer to the intuitionistic critique and thereby justify them a posteriori.“ Diese Einschätzung kann wohl auch heute noch als gültig angesehen werden.

1966 kam Brouwer im Alter von 85 Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Da Brouwer zeitlebens kein einziges Buch über seine Arbeit verfaßt hatte, waren bis zur Veröffentlichung seiner gesammelten Werke erst im Jahr 1975 seine Arbeiten leider nur durch verstreute Zeitschriftenaufsätze und oft nur in holländischer oder deutscher Sprache zugänglich.

Es muss hier betont werden, daß inhaltliche Unterschiede zwischen der klassischen und der intuitionistischen Mathematik erst auftreten, wo unendliche Objekte eine Rolle spielen, also vor allem in der Analysis. In der endlichen Alltagsmathematik sind die Inhalte identisch, nicht allerdings die zu deren Ableitung zulässigen logischen Schlüsse, denn der Intuitionismus verschärft die Interpretation aller Aussagen. An die Stelle des klassischen „Es ist wahr, dass …“ tritt das stärkere „Es kann bewiesen werden, dass …„, und dem entsprechend verschärfen sich auch die Anforderungen an die zulässigen logischen Ableitungen – manche der vorher üblichen Beweise werden nicht mehr als gültig erachtet:

Das klassische aristotelische Prinzip des ausgeschlossenen Dritten („tertium non datur“, A ∨¬A) wird vom Intuitionismus in seiner vollen Gültigkeit abgelehnt, es darf allenfalls noch auf endliche Objekte angewandt werden. Es ist jetzt als eine inhaltliche Behauptung zu interpretieren, welche besagt, dass die Alternative A ∨ ¬ A tatsächlich entschieden werden kann, d.h. dass man entweder A beweisen kann oder aber ¬ A beweisen, also aus A einen Widerspruch („Falsum“) ableiten kann. Äquivalent zum Prinzip des ausgeschlossenen Dritten sind das Prinzip des Beweises durch Widerspruch sowie das Prinzip der doppelten Negation, welche in Konsequenz ebenfalls abgelehnt werden müssen. Nach der intuitionistischen Interpretation ist die doppelt verneinte Aussage ¬¬A (Brouwer nannte sie stets „die Absurdität der Absurdität von A“) tatsächlich schwächer als die positive Aussage A. Dies setzt sich aber nicht fort: dreifache Verneinung ist weiterhin äquivalent mit einfacher Verneinung. Das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs gilt aber weiterhin: die Formel A ∧ ¬ A ist auch intuitionistisch immer falsch.

Trotzdem kann man die intuitionistische Logik nicht nur als Einschränkung, sondern auch als Erweiterung der klassischen Logik verstehen: jedes klassisch ableitbare Aussage kann nämlich durch Einfügen von ausreichend vielen doppelten Negationen umgewandelt werden in eine Aussage, die zu ihr im klassischen Sinn äquivalent ist und nun aber trotzdem mit den eingeschränkten intuitionistischen Regeln abgeleitet werden kann. In diesem modifizierten Sinn ist also jede klassisch herleitbare Aussage auch intuitionistisch herleitbar; darüber hinaus lassen sich aber viele Aussagen auch ohne solche intuitionistisch abschwächende Modifikationen herleiten, und in einem solchen Fall ist dann tatsächlich inhaltlich mehr bewiesen.

Und was bringt uns das Ganze nun ?

Die klassische aristotelische Logik ist theoretisch perfekt, hat aber ein grosses Problem für die Praxis: denn falls die angenommenen Voraussetzungen inkonsistent sind oder falls ein Fehler in einem einzigen Beweisschritt unterläuft, dann ist in der klassischen Logik gleich alles kaputt – ein einziger Fehler bewirkt, dass alles Beliebige bewiesen werden kann, dass also alle gemachten Beweise wertlos werden, denn mit dem Beweis durch Widerspruch ist ja jede Aussage beweisbar falls irgendwo eine Inkonsistenz unterlaufen ist.

Das intuitionistische Ableitungssystem hat diese Eigenschaft aber nicht, es ist resilient gegen Fehler, denn die nach der Ablehnung des Beweises durch Widerspruch verbliebenen intuitionistischen Beweisregeln haben eine sogenannte Teilformeleigenschaft: im Fall eines Fehlers oder einer Inkonsistenz sind nur diejenigen Schlüsse entwertet, in denen die mit der Inkonsistenz verbundenen Formeln und Terme auftauchen – alle anderen bereits gemachten Beweise bleiben unberührt und gültig. In der intuitionistischen Logik sind Fehler also inkrementell korrigierbar.

Dies macht also nun verstehbar, warum im „echten Leben“ ein Beweis durch Widerspruch so oft auf Unverständnis stösst – er setzt ja implizit voraus, dass niemals Fehler unterlaufen. In der Praxis denkt der Mensch intuitionistisch.

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