Polygonales Mauerwerk

Polygonales Mauerwerk ist ein weiteres Beispiel für einen Begriff, der in der deutschsprachigen Wikipedia sehr zu Unrecht als uninteressant übergangen und nicht differenziert wird vom sogenannten Zyklopenmauerwerk, obwohl schon 1905 der Brite Thomas Ashby, Jr. die Wichtigkeit einer klaren Unterscheidung zwischen polygonalen und zyklopischen Mauern betont hat. Darum will ich hier diesen Unterschied herausarbeiten: als polygonales Mauerwerk sollen nur mörtellose Mauern ohne horizontal durchlaufende Fugen bezeichnet werden, d.h. obwohl Rechtecke und Dreiecke streng genommen im mathematischen Sinn natürlich auch als Polygone gelten, bezeichnen wir hier als „polygonal“ nur geradlinig begrenzt Sichtflächen von Mauersteinen, wenn diese nicht rechteckig sind und sich nicht regelmäßig wiederholen.

Zur Abgrenzung erst mal einige Beispiele für nicht-polygonales Mauerwerk:

Talayot sa Clova des Xot auf Mallorca, Zyklopenmauerwerk, nicht polygonal
„Heidenmauer“ am Odilienberg im Elsass, um 700 n.Chr., Zyklopenmauerwerk mit überwiegend horizontalen und sehr groben Fugen
Gallarus Oratorium, Kerry County, Irland
ausgestopfte Fugen, nicht polygonal
Tiryns, Peloponnes, Griechenland – grob ausgestopfte Fugen, nicht polygonal
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/4/47/The_Lion_Gate_on_26_March_2019.jpg/640px-The_Lion_Gate_on_26_March_2019.jpg
Mauer am Löwentor in Mykene, auch Zyklopenmauerwerk und nicht polygonal
moderne Hafenmauer, Salisbury Dock, Liverpool – mit großen Steinen, aber KEIN polygonales oder Zyklopenmauerwerk, denn die großen Steine sind mit kleinen Steinen kombiniert und vermörtelt
natürlich polygonale Sandsteinformation in Utah
Burg Osaka, Japan, grobe und ausgestopfte Fugen, m.E. auch eher nicht polygonal
Cerberus-Grab bei Neapel, opus incertum
Stützmauer am Apollotempel in Delphi mit gekrümmten Fugen, daher kein polygonales Mauerwerk im strengsten Sinn – man nennt dieser Sonderform auch „Lesbisches Mauerwerk“ oder Kurvenpolygonalmauerwerk

Hier interessiere ich mich ausschließlich für Mauern aus Steinen, die mit sehr engen Fugen („praktisch fugenfrei“) ohne Mörtel gesetzt sind, falls diese Fugen überwiegend geradlinig verlaufen aber NICHT durchlaufend sind (die Variante, die Guiseppe Lugli 1957 als „Typ III“ klassifizierte):

Die 4 Typen polygonaler Mauern nach G. Luigi (meine Hervorhebung in rot)

Diesem speziellen Typ von Mauern wird wegen dem Fehlen von langen potentiellen Bruchkanten eine besondere Stabilität und insbesondere hohe Beständigkeit gegen Erdbeben zugeschrieben – vielleicht sind derartige systematische Verkeilungen auch einfach technisch erforderlich, damit Natursteine ohne verbindenden Mörtel nicht einfach auseinanderrutschen:

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/b/bc/Zyklopenmauerwerk.jpg/640px-Zyklopenmauerwerk.jpg
typisches polygonales Mauerwerk
auch polygonales Mauerwerk

Besonders bekannt ist das aus riesigen Blöcken gebaute polygonale Mauerwerk aus Südamerika, wo die Inka ihre eigenen Bauten aufgesetzt haben auf ältere Mauern in diesem Stil, welche sie selbst dort bereits vorgefunden hatten.

Erst kürzlich hab ich nun mitbekommen, dass solche polygonalen Mauern – mit etwas kleineren Blöcken – auch in Europa verbreitet sind, besonders in Italien und dort insbesondere in Latium (dort als opus poligonalis oder opus siliceum bezeichnet und in 4 Subtypen differenziert). Man nennt diese Bauart in Europa auch pelasgisch wegen der alten Theorie, dass die von Herodot beschriebenen vor-griechischen Pelasger so gebaut hätten. Ein paar Beispiele hab ich mir gleich mal vor Ort angeschaut:

Rest einer polygonalen Mauer in Palestrina, Latium
Polygonale Mauer in Alba Fucens, Abruzzen

Weitere typische Beispiele gibt es reichlich in Latium und Umgebung:

Brücken-Unterbau bei Ferentino, Latium
Mauerstück in Ferentino, Latium
Mauerreste bei San Felice Circeo, Latium, grenzwertig polygonal
Fundament der Ponte Fabio Massimo in Faicchio, Kampanien
Porta Romana in Saturnia, Toskana
K&K Befestigungsanlagen rund um Verona, 1860
Stadtmauer in Alatri, Latium
polygonale Mauer und Tor von Norba, heute Norma, Latium
Mauer und Tor bei Arpino, Latium
Stützmauer am Kastell von Santa Severa, Latium
Turmfundament in Castellone Formia, Latium
Mura poligonali - Amelia
Stadtmauer von Amelia, Umbrien
Bogen und Mauer in Pietrabbondante, Molise rechte Stützmauer klar polygonal
K&K Befestigungsanlagen rund um Verona, 1860

Aber auch Nachbarländer von Italien liefern Beispiele:

Gitana in Thesprotien, Epirus, Nord-Griechenland
Kastell von Katsingri, auch Μυκηναϊκό τείχος oder Palaiokastro genannt, bei Agios Adrianos, Peloponnes
File:Abae-05.JPG
Abai in der Phokis, Griechenland
Byzantinische Basilika“ in Adada, Pisidien – unterer Teil vielleicht polygonal
File:Butrint - Akropolis Mauer.jpg
Akropolis von Butrint, Epirus, heute Albanien
Stadtmauer von Amantia, Illyrien, heute Albanien
Teil des Mauerrings von Alaca Höyük, Anatolien
Ruine der russischen Festung Bomarsund auf der heute finnischen Ostseeinsel Åland – ab 1830 erbaut, aber vor Fertigstellung während des Krimkriegs 1854 von französischen Truppen wieder gesprengt. Beispiel einer späten klar polygonalen Festungsmauer
K&K Festung Komorn an der Mündung der Waag in die Donau, heute Slowakei – ab 1546 nach Plänen des italienischen Festungsbaumeisters Pietro Ferrabosco
Stützmauer bei Asine (Kastraki), Peloponnes
Stadtmauer von Pandosia, bei Kastri, Epirus
Retaining wall of Pnyx III - Athens
Stützmauer der Pnyx in Athen
Tempel der Nemesis in Rhamnous, Attika – polygonale Mauer im Hintergrund
Mauer in Olympos, Lykien, heue Deliktaş, Türkei
Olèrdola, Katalonien
Festungsmauer von Sveaborg,
Insel vor Helsinki, Finnland
Festungsmauer in Kronstadt auf der Insel Kotlin bei St. Peterburg, Russland

Und dann natürlich die anderen Kontinente:

Calle Inka Roqa in Cuzco, Peru
Sunga Hija Quellfassung, Okinawa
Shurijo Castle Kobikimon Gate | A World Heritage that tells the tales of  the prosperous Ryukyu Kingdom
Kobikimon Tor, Burg Shuri, Okinawa
Erstes Tor. Mausoleum Tama Udun, Okinawa – 15. Jahrhundert
(orinalgetreu modern restauriert)
Burg Nakagusuku, Okinawa – dort wird dieser Mauerstil „Aikata-zumi“ genannt, d.h. „nach dem Muster eines Schildkrötenpanzers“, und gilt dort als letzter und fortschrittlichster Mauerstil

Einige der in diesem Zusammenhang von anderen häufig angeführten Orte zeigen nach meiner Einschätzung zwar zyklopische, aber eben nicht polygonale Mauern: das betrifft Mykene, Tiryns und das Heraion bei Argos auf der Peloponnes, Olevano Romano, Roselle bei Grosseto, die Mura Dionigiane in Adrano und in Syrakus, die Stützmauer in Cefalù und die in Montecassino, das Tempelchen in Santeramo in Apulien, Yanıkhan in Kilikien, die Kreuzfahrerburg Clemoutsi, die Forts Kumbhalgarh und Vellore in Indien, das illyrische Daorson in der Herzegowina, Mangup-Kale auf der Krim und die abkhasische Festung Anacopia, die syrische Kirche in Qalb Loze, die Ponte del Mulino und die auch manchmal hier angeführte Rialtobrücke und Rapa Nui – auch dort baute man mit fein gefugten riesigen Quadern, die aber in klar horizontal getrennten Lagen gestapelt sind:

Vinapu, einzelner Mauerrest auf Rapa Nui (Osterinsel), fein gefugt aber eher nicht polygonal
Warum dieser Mehraufwand ?

Polygonale Mauern zu errichten verursacht klar einen Mehraufwand im Vergleich zu Mauern aus standardisierten quaderförmigen Blöcken, denn diese können weitgehend im Steinbruch fertig behauen werden, wogegen Polygonal-Blöcke an der Baustelle einzeln zugerichtet werden müssen. Infolgedessen müssen hier die Steine „brutto“ transportiert werden, also mit den Anteilen die danach weggeschnitten werden.

Die alte und überholte Benennung der polygonalen Mauern als „pelasgisch“ hat möglicherweise in Europa dazu geführt, sie zu Unrecht als primitiver, uralt und vorrömisch zu betrachten. Die Beispiele aus Okinawa zeigen, dass man diesen Stil auch viel später finden kann, als eine verbesserte Weiterentwicklung der rechteckigen Blöcke. Sie sind als fortschrittliche Technik zu verstehen, um eine besonders stabile Mauer zu errichten falls aus irgendeinem Grund kein Mörtel verwendet werden kann oder soll. Dass die polygonale Technik in der Evolution des Mauerbaus nach den quaderförmigen Blöcken einzuordnen ist, wird auch durch ein Detail belegt: polygonale Mauern können prinzipbedingt keine Ecken haben – Ecken muss man mit Quadern und horizontalen Fugen bauen, sonst drückt es die Ecksteine heraus, und das ist in den obigen Beispielen auch jeweils so ausgeführt. Es ist also damit belegt, dass die Erbauer der polygonalen Mauern auch den Bau mit Quadern beherrschten.

Es scheint mir so weit durchaus als möglich, dass auch die europäischen polygonalen Mauern erst im späten Mittelalter erbaut sein könnten, jedenfalls nach der Römerzeit. Keines der obigen Beispiele schliesst das m.E. aus – es gibt Beispiele von Kirchen, von denen angenommen wird dass sie auf den Resten alter Tempel erbaut sind, welche wiederum über polygonalen Stützmauern stehen: hier ist noch zu klären, wie alt diese Tempel wirklich waren, und ob diese Umfassungsmauern nicht auch nach den Tempeln um diese herum erbaut sein können. Es ist auch bemerkenswert, dass die Römer keine eigene Bezeichung für engfugiges polygonales Mauerwerk kannten, es kann höchstens verallgemeinernd als „opus incertum“ klassifiziert werden.

Keineswegs archaisch, sondern innovativ!

Mit diesen Überlegungen komme ich zu diesem Ergebnis: der Typ von polygonalen Mauern, den wir in Mittel-Italien und am Balkan finden, wurde entwickelt, damit diese Mauern einem Beschuss mit Kanonen standhalten können, und ist dementsprechend ins ausgehende Mittelalter bzw. in die Renaissance zu datieren. Damit sind sie dann zeitgleich mit den ähnlichen Mauern auf Okinawa. Die Mauern in Südamerika und wohl auch die in Anatolien unterscheiden sich im Stil deutlich und sind unabhängig zu datieren.

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