Die Protokolle der Weisen von …

Wir kennen heute aus dem Geschichtsunterricht die sogenannten Protokolle der Weisen von Zion als eine diffamierende Textfiktion vom Anfang des 20. Jahrhunderts, die schlimmste politische Auswirkungen verursachte.

Erst jetzt habe ich zufällig gelernt, dass es dazu ein vielleicht ebenso fingiertes Vorbild von 1755 gab, im französischen Orginal betitelt La Réalité du projet de Bourg-Fontaine“, dann 1764 in lateinischer Übersetzung „Veritas Consilii Burgofonte“ und 1793 auf deutsch als „Beweis Von Der Wirklichkeit Der Zusammenkunft in Bourgfontaine“, englisch meist als „The Secrets of the Elders of Bourg-Fontaine“ zitiert, in 2 Bänden verfasst von dem Jesuiten Henri-Michel Souvage. Es skandalisiert ein Zusammentreffen 1621 im Kartäuserkloster „Notre Dame de Bourgfontainebei Villers-Cotterêts, bei dem Cornelius Jansen und fünf Gesinnungsgenossen nichts weniger als die ‚Zerstörung‘ (Reform) der christlichen Religion geplant haben sollen, laut einem 1654 im Auftrag eines mittlerweile abtrünnig gewordenen Teilnehmers durch den Rechtsanwalt Jean Filleau veröffentlichten Protokolls dieser Versammlung:

Titelseite des 1654 veröffentlichten Protokolls, das 100 Jahre später Grundlage von „Veritas Consilii Burgofonte“ wurde

Wir sehen hier also ein vorgebliches Protokoll, das volle 33 Jahre nach dem protokollierten Zusammentreffen vom einer regierungsnahen dritten Seite publiziert wurde, nachdem grade kurz zuvor die hier protokollierte Gruppe päpstlicherseits wegen Ketzerei verdammt worden war. Die mutmaßlichen Teilnehmer des Treffens Arnauld und Pascal bezeichneten dies sofort als Fälschung. Aber nochmals über 100 Jahre später wird nun dieses angebliche Protokoll wieder aufgegriffen und dient erneut als Material zur Entlarvung politischen Gegner:

Während die späteren „Protokolle der Weisen von Zion“ antisemitisch wirken wollten, richtete sich „Veritas Consilii Burgofonte“ gegen den Jansenismus, eine Reformbewegung innerhalb der katholischen Kirche Frankreichs, der sich u.a. der Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal angeschlossen hatte, die aber päpstlicherseits ab 1642 verboten und dann 1653 förmlich als Ketzerei verurteilt und von vor allem den Jesuiten bekämpft wurde.

1758 reagierte Charles Clémencet mit einer Gegendarstellung „La Verité et l’Innocence – Victorieuses de l’erreur & de la calomnie. 8 lettres sur le projet de Bourg-Fountaine“, welche „Veritas Consilii Burgofonte“ widerlegen sollte aber dann wiederum ihrerseits verboten und unterdrückt wurde.

Nach der französischen Revolution galt es dann, Freimauerer und Illuminaten als Verschwörer bloßzustellen, wie es der schottische Mathematiker John Robinson 1797 in seinem Buch „Proofs of a Conspiracy against all the Religions and Governments of Europe, carried on in the Secret Meetings of Free-Masons, Illuminati and Reading Societies“ unternahm. Die deutsche Übersetzung von 1800 „Ueber geheime Gesellschaften und deren Gefährlichkeit für Staat und Religion“ ist deutlich verkürzt.

Als weiteres Vorbild in dieser Kette fingierter Enthüllungen findet man 1848 „Conjuration des Jésuites, publication authentique du plan secret de l’ordre“ (englisch als „The Secret Plan of the Order„) vom piedmontesischen Pater Jacopo Leone – auch Autor von „Roma Empia“ („gottloses Rom“) und „Gli Stati Uniti d’Europa o la barbarie“ – über einen angeblich zufällig belauschten Weltherrschaftsplan der Jesuiten, mit einem Herausgeber-Vorwort des französischen Frühsozialisten Victor Considerant. Wenig überzeugend ist, dass diese vorgeblichen Verschwörer in ihrer Besprechung nicht etwa Tagesprobleme und aktuellen Fortschritt besprechen, sondern in epischer Breite die elementaren Grundlagen ihrer Pläne durchkauen, die doch alle Teilnehmer bereits kennen müssen.

Anscheinend gab es hier über Jahrhunderte ein Ping-Pong von gegenseitigen Entlarvungsversuchen durch mehr oder weniger fingierte „Whistle Blower“-Enthüllungen – keine Einzelfälle sondern eine sich progressiv entwickelnde literarische Form und Methode.

Aus der Zwischenkriegszeit ist dann das sogenannte Tanaka-Memorandum zu nennen, eine angebliche Welteroberungsplanung der japanischen Regierung, die in der westlichen Welt heute überwiegend als antijapanische Fälschung eingestuft wird, in China und der früheren Sowjetunion aber als echt galt und z.T. heute noch geglaubt wird. Im Westen glaubte man im kalten Krieg lieber an einen angeblichen Welteroberungsplan von Mao Tse Tung.

Wahrscheinlich ist auch der 2004 erschienene Bestseller „Bekenntnisse eines Economic Hit Man“ von John Perkins in diese Reihe zu stellen. Mit der Formulierung „Versuch, den behaupteten weltweiten Neokolonialismus der USA in Form einer Beschreibung der Geheimdienstaktivitäten der USA aus der Sicht eines Insiders zu belegen.“ vermeidet Wikipedia eine Festlegung, ob der Buchinhalt nur fingiert ist oder real.

Dürfen wir den Enthüllungen von Edward Snowden eigentlich trauen ? Sie scheinen doch der NSA eher genutzt zu haben als ihr zu schaden …