Polygonales Mauerwerk ist ein weiteres Beispiel für einen Begriff, der in der deutschsprachigen Wikipedia sehr zu Unrecht als uninteressant übergangen und nicht differenziert wird vom sogenannten Zyklopenmauerwerk, obwohl schon 1905 der Brite Thomas Ashby, Jr. die Wichtigkeit einer klaren Unterscheidung zwischen polygonalen und zyklopischen Mauern betont hat. Darum will ich hier diesen Unterschied herausarbeiten: als polygonales Mauerwerk sollen nur mörtellose Mauern ohne horizontal durchlaufende Fugen bezeichnet werden, d.h. obwohl Rechtecke und Dreiecke streng genommen im mathematischen Sinn natürlich auch als Polygone gelten, bezeichnen wir hier als „polygonal“ nur geradlinig begrenzt Sichtflächen von Mauersteinen, wenn diese nicht rechteckig sind und sich nicht regelmäßig wiederholen.
Zur Abgrenzung erst mal einige Beispiele für nicht-polygonales Mauerwerk:
Hier interessiere ich mich ausschließlich für Mauern aus Steinen, die mit sehr engen Fugen („praktisch fugenfrei“) ohne Mörtel gesetzt sind, falls diese Fugen überwiegend geradlinig verlaufen aber NICHT durchlaufend sind (die Variante, die Guiseppe Lugli 1957 als „Typ III“ klassifizierte):
Diesem speziellen Typ von Mauern wird wegen dem Fehlen von langen potentiellen Bruchkanten eine besondere Stabilität und insbesondere hohe Beständigkeit gegen Erdbeben zugeschrieben – vielleicht sind derartige systematische Verkeilungen auch einfach technisch erforderlich, damit Natursteine ohne verbindenden Mörtel nicht einfach auseinanderrutschen:
Besonders bekannt ist das aus riesigen Blöcken gebaute polygonale Mauerwerk aus Südamerika, wo die Inka ihre eigenen Bauten aufgesetzt haben auf ältere Mauern in diesem Stil, welche sie selbst dort bereits vorgefunden hatten.
Erst kürzlich hab ich nun mitbekommen, dass solche polygonalen Mauern – mit etwas kleineren Blöcken – auch in Europa verbreitet sind, besonders in Italien und dort insbesondere in Latium (dort als opus poligonalis oder opus siliceum bezeichnet und in 4 Subtypen differenziert). Man nennt diese Bauart in Europa auch pelasgisch wegen der alten Theorie, dass die von Herodot beschriebenen vor-griechischen Pelasger so gebaut hätten. Ein paar Beispiele hab ich mir gleich mal vor Ort angeschaut:
Aber auch Nachbarländer von Italien liefern Beispiele:
Und dann natürlich die anderen Kontinente:
Einige der in diesem Zusammenhang von anderen häufig angeführten Orte zeigen nach meiner Einschätzung zwar zyklopische, aber eben nicht polygonale Mauern: das betrifft Mykene, Tiryns und das Heraion bei Argos auf der Peloponnes, Olevano Romano, Roselle bei Grosseto, die Mura Dionigiane in Adrano und in Syrakus, die Stützmauer in Cefalù und die in Montecassino, das Tempelchen in Santeramo in Apulien, Yanıkhan in Kilikien, die Kreuzfahrerburg Clemoutsi, die Forts Kumbhalgarh und Vellore in Indien, das illyrische Daorson in der Herzegowina, Mangup-Kale auf der Krim und die abkhasische Festung Anacopia, die syrische Kirche in Qalb Loze, die Ponte del Mulino und die auch manchmal hier angeführte Rialtobrücke und Rapa Nui – auch dort baute man mit fein gefugten riesigen Quadern, die aber in klar horizontal getrennten Lagen gestapelt sind:
Warum dieser Mehraufwand ?
Polygonale Mauern zu errichten verursacht klar einen Mehraufwand im Vergleich zu Mauern aus standardisierten quaderförmigen Blöcken, denn diese können weitgehend im Steinbruch fertig behauen werden, wogegen Polygonal-Blöcke an der Baustelle einzeln zugerichtet werden müssen. Infolgedessen müssen hier die Steine „brutto“ transportiert werden, also mit den Anteilen die danach weggeschnitten werden.
Die alte und überholte Benennung der polygonalen Mauern als „pelasgisch“ hat möglicherweise in Europa dazu geführt, sie zu Unrecht als primitiver, uralt und vorrömisch zu betrachten. Die Beispiele aus Okinawa zeigen, dass man diesen Stil auch viel später finden kann, als eine verbesserte Weiterentwicklung der rechteckigen Blöcke. Sie sind als fortschrittliche Technik zu verstehen, um eine besonders stabile Mauer zu errichten falls aus irgendeinem Grund kein Mörtel verwendet werden kann oder soll. Dass die polygonale Technik in der Evolution des Mauerbaus nach den quaderförmigen Blöcken einzuordnen ist, wird auch durch ein Detail belegt: polygonale Mauern können prinzipbedingt keine Ecken haben – Ecken muss man mit Quadern und horizontalen Fugen bauen, sonst drückt es die Ecksteine heraus, und das ist in den obigen Beispielen auch jeweils so ausgeführt. Es ist also damit belegt, dass die Erbauer der polygonalen Mauern auch den Bau mit Quadern beherrschten.
Es scheint mir so weit durchaus als möglich, dass auch die europäischen polygonalen Mauern erst im späten Mittelalter erbaut sein könnten, jedenfalls nach der Römerzeit. Keines der obigen Beispiele schliesst das m.E. aus – es gibt Beispiele von Kirchen, von denen angenommen wird dass sie auf den Resten alter Tempel erbaut sind, welche wiederum über polygonalen Stützmauern stehen: hier ist noch zu klären, wie alt diese Tempel wirklich waren, und ob diese Umfassungsmauern nicht auch nach den Tempeln um diese herum erbaut sein können. Es ist auch bemerkenswert, dass die Römer keine eigene Bezeichung für engfugiges polygonales Mauerwerk kannten, es kann höchstens verallgemeinernd als „opus incertum“ klassifiziert werden.
Keineswegs archaisch, sondern innovativ!
Mit diesen Überlegungen komme ich zu diesem Ergebnis: der Typ von polygonalen Mauern, den wir in Mittel-Italien und am Balkan finden, wurde entwickelt, damit diese Mauern einem Beschuss mit Kanonen standhalten können, und ist dementsprechend ins ausgehende Mittelalter bzw. in die Renaissance zu datieren. Damit sind sie dann zeitgleich mit den ähnlichen Mauern auf Okinawa. Die Mauern in Südamerika und wohl auch die in Anatolien unterscheiden sich im Stil deutlich und sind unabhängig zu datieren.